Die sogenannte vierte industrielle Revolution stellt die Art, wie sich Unternehmen aufstellen und wie die Partner in der Wertschöpfung zusammenarbeiten, vollständig um. Das ist der größte Wandel, den die Wirtschaftsgeschichte je erlebt hat. Keine Branche kann sich dem entziehen. Dies betrifft Großkonzerne genauso wie Mittelständler, Handwerksbetriebe, ja sogar die bisherigen Kunden, die in den Wertschöpfungsprozess zunehmend als aktive Partner einbezogen werden: als Datenlieferant und als aktiver Teilnehmer bei der Herstellung: als sogenannter Prosumer.
Vernetzung und Aufbrechen von Unternehmensgrenzen
Das Denken und Handeln in Netzwerken wird zunehmend über den Geschäftserfolg entscheiden. Bisher klar definierte Unternehmensgrenzen werden an definierten Stellen aufbrechen. An die Stelle linearer Lieferketten entstehen Netzwerke unter Einbindung verschiedenster Partner. Darin werden auch Unternehmen, die ihre Wertkette bisher rigoros gegen ihre Konkurrenz abgegrenzt haben, direkt miteinander zusammenarbeiten. In diesem Zustand der sogenannten Coopetition sind gemeinsame und gegenläufige Interessen sorgsam abzuwägen, denn Konkurrenz wird es weiter geben, sie wird sogar noch härter werden und deshalb werden konkurrierende Unternehmen ihre Interessen dort bündeln, wo daraus Kosten- und Zeitvorteile entstehen – und sie werden dort weiter gegeneinander kämpfen wo sie sich durch spezifischen Kundennutzen differenzieren können: vor allem in Leistungsprofilen, Liefergeschwindigkeit und Markenidentität.
World Scale Factory out?
Das bisherige Paradigma der fertigenden Industrie war bisher auf Kostenvorteile durch größtmögliche Volumina ausgerichtet. Als Standardlösung drängt sich im Idealfall die sogenannte „Word Scale Factory“ auf, auch kontinental konzentrierte Fabriken und Fertigungen, die produktspezifisch den gesamten Weltmarkt bedienen. Dementsprechend werden große Transportwege in Kauf genommen und ganze Netze von regionalen Logistikzentren müssen vorgehalten werden. Damit gehen Kostenvorteile aus großen Volumina teilweise wieder verloren, Kapital bleibt länger gebunden, längere Lieferzeiten und Komplexitäten für Management und Disposition belasten das Geschäft.
Kundennahe Minifabs in?
Als Konkurrenz zu großen zentralisierten Fertigungen schieben sich jetzt lokale Minifabriken in den Vordergrund. Diese werden möglich durch Fertigungsverfahren wie dem 3-D-Druck, durch das Vorhalten von virtuellen (Software-) Abbildern der zu produzierenden Objekte, die aus der sogenannten Cloud (als Sammelbegriff für die global verteilten Server) weltweit für alle Fabriken verfügbar gemacht werden können. Doch nicht nur das Design der Produkte ist in der Cloud hinterlegt sondern auch die Verfahrenssteuerung für die dezentrale Fertigung, denn über einzelne innovative Fertigungsverfahren hinaus sind MInifabs auf hochautomatisierte Prozessführungen ausgerichtet, mit der gesamten erforderlichen Fertigungs-Infrastruktur -im Kompakt-Format. Auf Kundenanforderungen können diese von Losgröße eins bis zu tausenden-Stückzahlen sofort fertigen und ausliefern, kundennah und ohne Kapital durch Lagerung und zeitaufwendige Transportwege zu binden.
Dies betrifft alle Wertschöpfungsstufen, geht quer durch alle Branchen und beginnt bereits mit der Produktentwicklung. Entwicklungsprozesse werden so drastisch verkürzt. Die Beschaffung von Rohmaterialen, Vorprodukten und Komponenten beschleunigt.
Grundlegender Strategischer Wandel
Damit geht ein grundlegender Wandel der strategischen Erfolgsfaktoren einher: an die Stelle von Volumenvorteilen treten Zeitvorteile, und die Erfüllung kundenspezifischer Produktwünsche, Losgröße eins. Dank Virtualisierung, bereits in der Produktentwicklung können die Entwicklungsprozesse dramatisch beschleunigt werden. Verkürzungen der Entwicklungszeigten von Faktor vier werden beobachtet. Sensoriksysteme und intelligente Prognosesysteme ermöglichen vorbeugende Wartung und voreilende Logistik: Lieferungen sind bereit auf halbem Weg bevor die Kunden sie ordern.
Künstliche Intelligenz
Dies alles ist nur möglich durch Nutzung aller denkbaren Verfahren zur Beschaffung und Auswertung von Daten, über Kunden, Prozesse, Ressourcen, Einsatzfaktoren und deren Optimierung. Die Sammlung massenhafter Rohdaten („Big Data“), Datenanalysen (Data Mining), automatisierte Auswertungen zur Erkennung von Verhaltens- und Bildmustern, um wertvolle Aussagen zu generieren, die sogenannten „Smart Data“. Wir beobachten dabei derzeit gewaltige Entwicklungsschübe, vor allem in der Nutzung der sogenannten künstlichen Intelligenz.
Veränderungen der Arbeitswelt
Dies alles wird die industrielle Arbeitswelt stark verändern. Direkte Arbeitskosten in der hochautomatisierten Fertigung und Logistik werden weiter sinken. Der Bedarf an hochbezahlten Fertigungsmanagern mit IT-Hintergrund wird steigen. Damit werden weit entfernte Niedriglohn-Fertigungen in vielen Branchen unattraktiver, weil andere Nachteile wie Transportkosten, Zeitbedarf, Komplexität und Lokalisierung des Managements diese belasten. Wir werden eine Welle von Rückverlagerungen beobachten. Speziell Deutschland wird davon profitieren: denn es wird günstiger sein, wieder in Deutschland zu produzieren, weil wir hier die am besten ausgebildeten Fachleute finden – und damit die Forderung nach Nähe zwischen Entwicklung, Fertigung und Kunde ideal erfüllen können. Die Sorge um eine Riesenwelle großer Arbeitsplatzverluste durch Automatisierung teile ich für Deutschland nicht. Insbesondere nicht bei Dualer Ausbildung, Industrienähe und Handwerk – denn die Vielfalt der geforderten Kompetenzen können Automaten nicht bieten. Eher bekommen wir Probleme mit Ausbildungen, die am Arbeitsmarkt vorbeigehen. Auch die derzeitigen Engpässe können wir in den Griff bekommen: durch systematische Identifikation von Leerleistungen und Versetzung der betreffenden Leute in werttreibende Funktionen.
Dies sind keine Killeargumente gegen die oben genannten Minifabs – vielmehr bedeutet dies, dass auch und gerade Deutschland für diese geeignet ist.
Vernetzung und Daten als Treiber
Ermöglicht wird dies letzlich durch die enorme Leistungssteigerung der Informations- und Kommunikationstechnik, die ihren Niederschlag im Internet und der Datenverarbeitungs-Infrastruktur gefunden hat. Gewaltigen Kostensenkungen bei der Datenübertragung und -speicherung ermöglichen es, riesige Datenmengen zu Produkten, Prozessen, Kunden und Kundenwünschen zu speichern, jederzeit abzurufen und kontinuierlich zu verbessern. Das „World Wide Web“ verbindet nicht nur alle Menschen und Organisationen sondern zunehmend auch alle technischen Einrichtungen. Aus dem Internet ist längst das „Internet of Things“ (IoT) geworden, in dem mittlerweile mehr vernetzte Objekte (sogenannte „Smart Devices“) direkt miteinander kommunizieren als Menschen.
Digitale Ökosysteme
Die Verbindung aus den vorgenannten Minifabs und die Verknüpfung in Wertschöpfungs-Netzwerke führt logischerweise zu den vieldiskutierten digitalen Ökosystemen Der aus der Biologie entlehnte Begriff bezeichnet Strukturen, die durch Erkennen von Nischen jede sich bietende Geschäftschance realisiert – wie die Pflanzen im Urwald, die keine Energie ungenutzt lassen. Das komplexe System aus Lieferanten, Herstellern, Wettbewerbern und Kunden kann den „Upstream“ (das Herstellungsnetz) und den Downstream (Rückbau bis zum Rohstoff) beinhalten, bietet also auch große Chancen für ökologisches Wirtschaften. Innerhalb dieses Systems setzen die Partner gemeinsame Standards, entwickeln Produkte und teilen Aufgaben. Sie können lokal tätig sein, aber durch das Web global miteinander interagieren, Rollen verteilen und Stärken nutzen. Eine neue Gattung datenorientierter Teilnehmer wird deren Ausrichtung bestimmen und die Arbeitsteiligkeit steuern, bedarfs- und angebotsgenau. Dies beinhaltet Verhaltensanalysen der Endkunden, alle Arten von Trends in Mode und Technik, Prognosen über Wertflüsse im Netz, Messung der Wertbeiträge, Sourcing, Quellen, Kostenbildung (etwa Spotmärkte) Erlösmodelle und kundenindividuelle Preisgestaltung. Somit ein gewaltiger datenorientierter Leistungsblock, der sogar das Potenzial hat, die dominierende Rolle in diesem System zu übernehmen.
Plattformen und Lösungsanbieter
Für die Bündelung von Beschaffung, Datenaustausch und Vertrieb in solchen digitalen Ökosystemen bieten sich sogenannte Plattformen an, also Märkte, bei denen die internen Spieler ihre Nachfrage und ihre Angebote zur Schau stellen und Geschäfte abschließen können. Derartige Plattformen können auch für externe Parteien geöffnet werden, sowohl als Märkte im Konsumsektor (B2C) als auch im professionellen Bereich (B2B).
Das Angebot ganzer Lösungen, basierend auf der Integration von Produkten und Komponenten, hat sich als eine der entscheidenden Veränderungen in der Wettbewerbslandschaft der „Industrie 4.0“ herausgestellt und als die größte Bedrohung etablierter Hersteller. Derartige Lösungsplattformen schieben sich nämlich in vielen Branchen zwischen die Hersteller und deren Kunden, degradieren die Hersteller zu Zulieferern, verschlechtern damit deren Verhandlungsmacht und erodieren ihren Unternehmenswert. Also Achtung: über Anschluss an einen Plattformanbieter nachdenken oder selber eine Plattform aufbauen, und zwar zwingenderweise als Online-Angebot im Internet, mit der Chance kostengünstiger internationaler Markterschließung.
Barrieren und Grenzen
Der große digitale Umbruch geht nicht ohne Probleme ab. Für eine breite Akzeptanz von Industrie 4.0 ist die Sicherheit der IT ganz entscheidend. Mit jedem Fall von Datendiebstahl oder der Fälschung virtueller Produkte wächst das Misstrauen am echten Nutzen dieser Innovationen. Belastbare Verträge, der Einbau digitaler Sicherungskonzepte und Cyber Security sind die großen Herausforderungen denen sich jeder Unternehmer stellen muss.
Entscheidend für die deutsche stark mittelständisch geprägte Wirtschaft ist des Weiteren die digitale Infrastruktur. Deutschland liegt dabei im OECD-Ranking ganz hinten. Wir brauchen flächendeckend für alle Funktionen den LTE-Standard und für spezielle zeitkritische Anwendungen wie etwa die vernetzte Fabriksteuerung quasi-Realzeit-Funktionen, wie sie das geplante 5G-Netz bietet. Dies allein kann aber nicht die Lösung sein, denn wenn eine Fertigung aus der Cloud gesteuert werden soll, dann verlängern sich die Reaktionszeiten („Roundtrip“) von der bei 5G gebotenen Latenzzeit von einer Millisekunde auf über zehn Millisekunden. Um dieses Problem zu überwinden sind Konzepte wie „Fog-Computing“ (Verbund lokalisierter Rechenzentren) und „Edge Computing“ (vollautomatisierte örtliche Kompakt-Rechenzentren) erforderlich.
Im längeren Horizont kommt auf uns alle noch das ungelöste Problem der gewaltig steigenden Datenmengen und deren Energieverbrauch auf uns zu. Bereits heute generieren Internet und Server doppelt soviel CO2 wie der weltweite Flugverkehr und Hochrechnungen ergeben, dass der Strombedarf aus der Digitalisierung in 20 Jahren so hoch sein wird wie der Gesamtverbrauch in den jeweiligen Staaten. Eine Lösung ist nicht in Sicht, aber der Unternehmer sollte das schon wissen.
Dieser Artikel ist in der Ausgabe 04/2019 im Handelsblatt erschienen